Willkommen im Land der Träume

8. September 2012 von Johnny Favourite

Wenn man sich erst einmal zehn Jahre lang erfolgreich vor dem Ernst des Lebens gedrückt hat, dann kommt vor einer Rückkehr in den Alltag selbstverständlich nur ein gebührender Abschied aus der Märchenwelt in Frage. Ein rauschendes Fest, ein großer Knall, eine Party von nie dagewesenem Ausmaß sozusagen, schließlich heißt es ab sofort fast vier Dekaden buckeln und dienern.

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Der 19. Rototom Sunsplash, Europas größtes Reggea-Festival, schien mir für ein Au Revoir an meine Jugend und mein lange ausgiebig gepflegtes Faulenzertum genau die richtige Bühne zu sein. Eine Woche lang Sex, Drugs und Rock&Roll, auch wenn es keinen Sex gab, weil meine Freundin zuhause blieb, und statt Rock&Roll sieben Tage lang Reggea-Bässe mit bis zu 15 000 Watt auf mich einhämmerten. 50 Jahre unabhängiges Jamaica, 50 Jahre Reggea-Musik, 50 Jahre The Wailers, auf dem Rototom wurde alles abgefeiert was ging.

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Noch einmal die alte Lederhaut eine Woche in der Sonne gerben lassen, bevor sie in einem Büro nie wieder das Tageslicht zu sehen bekommt. Am Mittelmeerstrand von Benicassìm enstpannen, abends die Topstars der internationalen Reggea-Szene genießen und danach bis in die frühen Morgenstunden in der OpenAir-Disco zu lässigen Beats tanzen. Wie sollte ich da Nein sagen?

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Die deutsche Ecke samt Caravan und Campingzelten war schnell etabliert, auch in der Fremde hieß es damit: Se habla aleman. Sonnenliegen, die man mit einem Handtuch hätte markieren können, gab es zwar keine, aber auch so wurde sich gekonnt abgeschottet, besonders natürlich gegen die allgegenwärtigen und weinseligen Franzosen. Jedes noch so kleine Bäumchen wurde über und über mit Hangematten geschmückt, so dass nicht selten vier Leute übereinander lagen. A2M bekam hier jedenfalls eine völlig neue Bedeutung, der Fachmann/die Fachfrau weiß wovon ich rede. Die Alimentation: sieben Tage Radikaldiät mit Bier und Fertiggerichte bei 40 Grad Celsius, und damit permanentem Schwitzbad unter freiem Himmel. Tätowierte Menschen mit Wursthaaren (Rastazöpfen) sorgten für authentisches Flair, und über allem hing stets eine Dunstglocke aus süßlichem Rauch, stoned sein gehörte hier einfach zum guten Ton. In den kühlenden Gemeinschaftsduschen wurde so gut wie alles vorgezeigt, und auch am Strand hätte man meinen können, man wäre in ein FKK-Revival aus DDR-Zeiten geraten. Dem lockeren Lebensstil eines 29-jährigen Althippies hier abschwören?

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Nur schwer denkbar, aber neben der Musik gab es auch ein enormes Angebot an kreativen Workshops, Diskussionen zu sozialen Themen, ein etwas esoterisch angehauchtes Energiedorf und morgendliches Mantra-Singen mit „echten“ Rastafaris. Geboten wurde unter anderem ein Reggea-Filmfestival und Treffen mit Größen der Szene wie Niney the Observer oder Clive Chin. Und auch wenn der Terminplan prall gefüllt war und viele Veranstaltungen später anfingen als geplant, Eile hatte hier niemand. Relax mon, we doin‘ it the jamaican way.  Sämtliche Acts waren denn auch stets schwer bemüht, ihre Liebe zu Jah und zum Gunja  zu betonen, böse Zungen könnten gar behaupten, es ginge in der jamaikanischen Musik eigentlich um nichts anderes.

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Das merkwürdigste an dem ganzen Festival war definitiv das Publikum, denn spätestens ab dem dritten Abend hätte man meinen können, es wüsste die dargebotenen Shows nicht wirklich zu würdigen. Bands, die alles gegeben hatten, wurden mit lethargischem Applaus quasi von der Bühne komplimentiert, der Jubel über die Auftritte war im Allgemeinen allenfalls  verhalten. Vielleicht hatten viele einfach ihre Kraftreserven überschätzt, sieben Tage feiern mit höchstens fünf Stunden Schlaf pro Nacht gingen jedenfalls ordentlich an die Substanz.

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Positive Gegenbeispiele gab es allerdings auch genügend, so schwenkte zum Beispiel eine Gruppe aus Korsika jeden Abend so enthusiastisch ihre Fahne, dass man hätte meinen können, es ginge um einen neuerlichen Sturm auf die Bastille. Und spätestens auf den Tanzflächen wurde dann wieder Vollgas gegeben: auf der Dubstation krochen die Partypeople geradezu in die Verstärker, die mit durch Mark und Bein gehenden Bässen aufwarteten.

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Am stürmischsten aber wurden die allgegenwärtigen Fressbuden frequentiert, warum auch nicht, unterstützte man mit fast jedem Kauf doch irgendeine soziale Einrichtung , von der Alpha Boys School in Kingston bis hin zu Müttern in Äthiopien. Und sei es nur eine Pizza, die von halbnackten Hippies dargereicht wurde, Hunger musste hier jedenfalls niemand leiden. Und ganz nebenbei wurden so die leeren Akkus auch wieder aufgetankt. Die Horizontale war dennoch nach einiger Zeit die bevorzugte Position, einfach mal back to the nature und den Sternenhimmel genießen, während sich die dröhnende Musik immer weiter entfernte und man sich sanft für ein kleines Schläfchen direkt  neben einem 10 000-Watt-Subwoofer verabschiedete.

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Am letzten Tag war ich zwar absolut glücklich, aber auch so bedient, dass ich alle fünf Minuten ängstlich auf mein Ticket schaute, aus Angst, den Bus nach Hause zu verpassen. Auch wenn man etwas liebt muss man es manchmal loslassen, um danach wieder Freude daran zu haben. Mindestens ein Monat keine Reggea-Parties mehr, das schwor ich mir und meinem geschundenen Körper und Gehör. Kein grüner Rauch mehr, kein rumlungern, keine ausufernden Nächte mit Exzessen, die Flavio Briatore wie einen Konfirmanden aussehen lassen. Ernst des Lebens, Arbeit, Familie, Haus, Baum, sofort! Zuhause wartete meine Freundin auf mich mit einem Kuss und folgender Nachricht: „Schatz, morgen ist Dancehall-Party mit Companheiro Leao“.

Fuck it, einmal noch, für den Ernst des Lebens bin ich eh schon zu alt!

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